Die Macht der Erinnerung

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Roman
Von Josephine Kretschmer

Wenn ein Mensch durch ein unerwartetes Ereignis plötzlich die Sprache und alle Erinnerungen verliert, dann bedeutet dies auch den Verlust eines erheblichen Teils seiner Identität. Es erfordert unheimliche Energie und einen starken Willen, sein Gedächtnis, und damit die eigene Persönlichkeit, zurückzugewinnen. Sich selbst kennenlernen und wieder entdecken, kann heißen, mit den traditionellen Moralvorstellungen zu brechen und sich selbst so anzunehmen, wie man ist. Vor wem muss man sich eigentlich rechtfertigen für seine Vergangenheit - außer vor sich selbst? Bereut man seine Entscheidungen, Gefühle oder Verhalten?

Helene Wesendahl, die Protagonistin aus Du stirbst nicht von Kathrin Schmidt, stellt sich diese grundlegenden Fragen, als sie aus dem Koma erwacht. Sie weiß weder, wo sie sich befindet, noch, wer sie ist. Erst im Laufe der Zeit kann sie den Teil ihres Lebens rekonstruieren, der sich vor ihrer Hirnblutung ereignete. Dabei kann sie sich der Außenwelt zunächst nur eingeschränkt mitteilen, da als Folge des Aneurysmas ihr Sprachvermögen stark eingeschränkt und ihre rechte Körperhälfte gelähmt ist.
"Der Hinternabwischer karrt sie zwei Gänge auf und ab, damit sie die Station noch einmal sehen kann, und fährt eine Schleife zum Personalzimmer. Abschied. Sie versucht, freundlich zu gucken, aber der Gedanke an Abschied treibt ihr seltsamerweise Tränen aus den Augen. Ach Mööönsch, Frau Wesendahl, seien Sie froh, es geschafft zu haben! Drei Wochen Intensivstation sind doch wirklich genug! Intensivstation? Wieder hört sie es beinahe rattern in ihrem Kopf. Sie überlegt, warum sie hier gewesen sein könnte, kommt aber zu keinem Ergebnis."
Der Roman wird in Form der langsam wiederkehrenden Erinnerungen der Heldin präsentiert. Deren Vielfalt ist zwiespältig zu bewerten: Einerseits konstruiert sich Helenes Identität natürlich mit Hilfe ihrer Erinnerungen. Andererseits sind die Stränge aber so unterschiedlich, dass deren Verschiedenartigkeit leicht verwirren kann.

Im Mittelpunkt steht die Protagonistin selbst, die, durch ihre Lähmung ans Bett gefesselt, um ihre Eigenständigkeit und Selbstbestimmung kämpft, wenn es beispielsweise um ihre Medikation geht. Der Verlust der Sprache wiegt am schwersten. Während Helene komplizierte Mathematikaufgaben mit Leichtigkeit lösen kann, gelingen die Sprechübungen einfach nicht. Vielleicht ist unser Sprachsystem viel komplexer als die Welt der Logik und der Zahlen. Das Übersetzen ihrer Gedanken und Gefühle vom Inneren ins Äußere fällt Helene schwer, denn während des Aussprechens verschwinden die Worte ganz plötzlich. Die Wiederentdeckung der Sprache ist für sie, die als Wortvirtuosin galt, von besonderer Brisanz. Sie ist Schriftstellerin und die Veröffentlichung ihres zweiten Buches steht kurz bevor. Helene erlebt ihre zweite Geburt schließlich mit dem Fertigstellen eines Essays über Büchners Lenz. Auch Lenz war Schriftsteller und hatte eine besondere Wahrnehmung der Realität, allerdings nicht wie Helene eingeschränkt durch ihre Erinnerungs- und Sprachlücken, sondern durch seinen Wahnsinn.

Helene erfährt, dass sie 44 Jahre alt, verheiratet und Mutter von fünf Kindern ist. Der Prozess des Erinnerns ist nicht immer einfach und verursacht manchmal sogar Schmerzen. Es ist ein ständiger Kampf zwischen Aufgeben und Weitermachen. Zu Beginn des Romans möchte sie sogar sterben. Doch dann erwachen ihre Entschlossenheit und ihr Wille zum Überleben, und sie ist bereit, alles zu auf sich zu nehmen, um ihr altes Leben wieder präsent werden zu lassen. Als sie sich das erste Mal aufrichten und nach langer Zeit einen Blick in den Spiegel werfen kann, gewinnt sie ihre Identität endlich zurück. 

Ein weiterer Erzählstrang beleuchtet Helenes Liebesleben. Ihre Ehe zu Matthes steht vor dem Aus und ihre Koffer sind schon gepackt, als sie die Hirnblutung ereilt. Grund für die Beziehungsprobleme ist ihre Affäre zu Viola Malysch. Im Rahmen einer Recherche lernen die beiden sich kennen, und Helene erfährt, dass Viola transsexuell ist. Sie war früher ein Mann und möchte ihr Leben nun als Frau weiterführen. Die Begegnung löst in Helene sofort eine starke Anziehung aus. Von der Gesellschaft nur schwer als  'richtige' Frau akzeptiert, stattdessen angestarrt und als Fremdwesen wahrgenommen, schminkt sich Viola übertrieben, um endlich als Frau akzeptiert zu werden. Diese Künstlichkeit verstärkt jedoch die groteske Wirkung auf andere. Nach der Zwangsscheidung verbot ihre Ex-Frau ihr den Kontakt mit den beiden Söhnen. Um ihnen zufällig zu begegnen, fährt Viola öfters in ihr Heimatdorf, doch kommt es über Jahre zu keinem Treffen. 

Ein wichtiger Baustein des Erinnerungskastens und zugleich Illustration für die nostalgische Reminiszenz ist die DDR-Vergangenheit, sowohl Helenes also auch der (Ost-)Deutschen im Allgemeinen. Vermeintliche positive Errungenschaften der DDR wie das Bildungssystem werden entlarvt und dekonstruiert. "Die Schulspeisung in der DDR war weder gut noch kostenlos, erst, wenn man drei Kinder hatte, zahlte man nichts mehr [...]. Zwar gingen die Kinder bis zur achten Klasse gemeinsam zur Schule, ehe sie sich aufspaltete in zehnklassige und zum Abitur führende Zweige, aber wer weitergehen durfte, entschied nicht immer die Leistung, sondern auch die soziale Herkunft eines Schülers."

Die eigene Erfahrung der Autorin, die selbst das Schicksal der Protagonistin erlebte und nach einer Hirnblutung ihr Sprachvermögen und ihre Körperfunktionen wieder erlernen musste, macht das Buch so eindringlich. Die personale Erzählperspektive schafft mal Nähe, an anderer Stelle Distanz zur Protagonistin. Gleichzeitig erlaubt diese, ausschließlich Helenes Wahrnehmung der Welt aufzuzeigen; ihre Wirkung auf das Umfeld, wie die Familie oder das Krankenhauspersonal, kann nur erahnt werden. Die Sprache bleibt zunächst sehr karg, bevor sie später im Einklang mit dem Heilungsprozess der Protagonistin facettenreicher wird. So ist es dem Leser möglich, diesen nachzuvollziehen. Demnach ergibt sich ein sowohl thematisch als auch sprachlich interessantes und durchdachtes Werk.

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009. 347 S. 19,95 €.

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