Sozialexpertise Loslabern – Autoren-Ich trifft Gesellschaftsnormalität

Rainald Goetz: Loslabern. Bericht 2008
Von Melanie Horn

Ein Bericht über den Herbst 2008 - das soll Rainald Goetz' Text Loslabern, folgt man dem Untertitel, sein. Doch objektiv berichtet wird hier nicht. Radikal subjektiv und in Ich-Form beschreibt der Autor Begegnungen rund um die Frankfurter Buchmesse, den Herbstempfang der FAZ und die Ausstellungseröffnung des Künstlers Albert Oehlen. Episoden des Herbstes 2008, bei denen Goetz seine Gegenüber gnadenlos zutextet. Er trifft Journalisten, Autoren und Künstler. In jeder Hinsicht enthemmtes Loslabern scheint dabei der Grundsatz seiner sozialen Kommunikation zu sein. 

So eröffnet Goetz dem BAZ-Journalisten Andreas Fanizadeh, wie fürchterlich er dessen kürzlich veröffentlichte RAF-Film-Kritik doch fand und bezeichnet den Popautor Joachim Lottmann mal eben als "schlimmstes Boulevardschwein". Den Schriftstellern Thomas Meinecke und Andreas Neumeister unterbreitet er ausführlichst seine makabere Sichtweise über die für ihn das Realkunstwerk des Jahres 2008 darstellende Todesfahrt von Jörg Haider. Börsenmaklerin und Autorin Anne T. Gier bezeichnet er als "Finanznutte" und "Abgrund an Stumpfsinn". Der Bild-Journalistin Anne Philippi macht er ohne Umschweife klar, was er von deren Wechsel zur Bildzeitung hält: einfach nur ein fürchterlicher Abstieg. Dem Chef des FAZ-Feuilletons, Frank Schirrmacher, wirft Goetz "geistwidrigen" Missbrauch seiner Macht und mangelnde Seriosität vor. Letztlich verweist der Autor diesen sogar auf seiner eigenen Party vom Platz.

Das sind nur einige der 'kommunikativen Glanzleistungen', die Rainald Goetz dem Leser in Loslabern präsentiert und die alle eigentlich nur denselben Eindruck vermitteln: Es geht nicht so sehr um die Menschen, mit denen hier geredet wird oder um Ereignisse einer bestimmten Zeit. Vielmehr stellt sich Goetz mit diesem Text selbst dar, als "Gefangener seiner Gegenwart", als "fragliche Figur". Loslabern zeigt Ausschnitte aus dem Sozialleben eines Autors, der nicht in der Lage scheint, sein Schreiber-Ich mit den Anforderungen von Gesellschaftsnormalität kompatibel zu machen. Besonders skurril wirkt dabei Goetz' Aufsplitterung seiner Persönlichkeit: Höllor, Ernstor und Bösor nennt er die Teile seines Ichs, die ihm die soziale Kommunikation erschweren und die zu der in dem Text immer wieder durchscheinenden, ungeschminkten Ehrlichkeit seinen Gesprächspartnern gegenüber führen. Den Höhepunkt des Spiels mit dem eigenen Innenleben stellt das kurzzeitige Überstreifen einer Fremdidentität, die Abgabe der Erzählerstimme an einen Mönch, als welcher sich Goetz im Jahr 2026 an seinen verstorbenen Freund Leopold zurückerinnert, dessen depressive Frau Selbstmord begangen hatte und dem er danach mit Gesprächen helfend zur Seite stand. Damit scheint er einen Blick in eine für ihn unerreichbare Zukunft zu wagen. Ist dies ein Zeichen einer Hoffnung, dass in absehbarer Zeit alles besser wird? Der Wunsch nach Normalität? 

Wohl kaum. Denn Goetz weiß, wie er tickt: "[H]ochgradiger Spinner, Nervösor, Gerstörter" und eben gerade darum "ein Meister seines Metiers, des literarischen Schreibens". Mit Literatur kennt er sich aus. Dies beweisen immer wieder in den Text eingestreute Kommentare über Autoren und lange Listen von literarischen Werken der Vergangenheit und der Gegenwart. Von Handke über Bernhard bis hin zu Mann - Goetz gibt sich als manischer Leser. Umso radikaler wirkt sein Urteil über die Größen der deutschen Literatur: "Büchner ist ein Loser, [...] Benn hat zu wenig geschrieben und Klaus Mann nur Kitsch, Rilke ist eine Nutte." Uwe Tellkamps Roman Der Turm sei sprachlich eine Null. Kehlmann begegnet Goetz mit Bösartigkeit und die "Kitschreaktionärheiten" von Botho Strauß beeindrucken ihn schon mal gar nicht. 

Wirkliches Interesse hat der Autor literarisch gesehen scheinbar nur an einem: an Christian Kracht. Über mehrere Seiten schildert er minutiös eine Begegnung mit dem Schweizer Autor, die tatsächlich nur wenige Sekundenbruchteile gedauert hat. Und nach dem Treffen mit Kracht verlässt Goetz sofort die Buchmesse. Die Person Krachts ebenso wie dessen Werke scheinen im Positiven wie im Negativen bleibenden Eindruck bei Goetz zu hinterlassen. So löste Faserland bei ihm eine "irrsinnige Begeisterung" aus, weil dort Dinge und Probleme, die ihn selbst beschäftigt hatten, auf perfekte Art gelöst erscheinen. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kritisiert er dagegen heftig:
"Mir hat das Buch nicht gefallen, das heißt, ich hatte es nicht lesen können. Ich hatte schon auf der ersten Seite eine solche Wut gekriegt über den manipulativen Stress, der mich da sprachlich, verbal, sound- und bildmäßig in diese kriegerische Schmutz- und Bodenwelt zwingen wollte."

Während Goetz in seinen Texten Jeff Koons, Dekonspiratione oder Rave auf jegliche Linearität verzichtet und daraus resultierende Formprobleme auszuhalten versucht, steht Krachts Auseinandersetzung mit der nicht-linearen Moderne im völligen Gegensatz dazu: In seinen Romanen Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten täuscht er lineares Erzählen vor. Christian Kracht ist das andere Extrem der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und aufgrund der Radikalität einer Figur wie Goetz offenbar der einzige Autor derzeit, der einen Mann wie Goetz zugleich beeindrucken und beängstigen kann. 

Doch nicht nur die Literatur wird in Loslabern von Goetz einem Standgericht unterworfen - auch Erzeugnisse der freien Presse setzt er gnadenlos seinem Urteil aus: Die Bildzeitung veröffentliche nur "Boulevarddreck, der den Proleten offen und direkt als Lüge angedreht wird". Springer sei im Grunde so etwas wie eine Sekte. Und für den Kulturbereich der FAZ sei eine "Fundamentalverklemmtheit" typisch. Beim Lesen des Sterns werde man geistig abgetötet, die "Krätze der Geschichte" hafte diesem Blatt weiterhin an: "Der Stern ist und bleibt das wöchentlich erscheinende Hitlertagebuch."

Die radikalen Urteile über Personen, Literatur und Medien werden in dem Text gekoppelt mit ellenlangen Sprachneuschöpfungen wie "Phobiennervenbündel", "weltkapitalistisches Verschwörungssystem" oder "hochakute Sofortistik". Mit Ausdrücken wie "allerabgenuttesten Bekenntnisdrang der abgehalfterten Nutte" oder "Fotzenexamen" macht der Autor zudem klar, dass eine Verschleierung der Realität durch die Sprache für ihn nicht in Frage kommt. 

Wer bei Goetz' Loslabern einen informativen Bericht über den Herbst 2008 erwartet, wird von dem Text radikal enttäuscht. Ist man jedoch an der Person Rainald Goetz selbst und an den Möglichkeiten und Abgründen seines Konzepts zeitgenössischer Autorschaft interessiert, so ist dieses Buch eine wahre Goldgrube. Das Misslingen der sozialen Kommunikation des Autors und seine fundamentalen Abwertungen von Zeitungen und literarischen Texten sind dabei nur zwei Aspekte, die sicherlich interessante Möglichkeiten bieten, dem Verständnis des Gesamtwerks von Goetz näher zu kommen.

Rainald Goetz: Loslabern. Bericht 2008. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 187 S. 17,80 €.

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