"Seither hieß Leben Zeit, geteilt durch Schnelligkeit"

Durs Grünbein: Strophen für übermorgen
Von Anna Rung

Als begebe man sich auf eine Reise durch die Zeit und zu den vielfältigen Schauplätzen des menschlichen Lebens - so wirkt es, wenn man Durs Grünbeins neuesten Gedichtband liest. Von der Antike, über die DDR-Vergangenheit Deutschlands, bis hin zu gegenwärtigen Gefühls- und imaginären Erfahrungswelten setzt sich der Autor mit grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens auseinander. Im Zentrum stehen die Vergänglichkeit des Einzelnen, individuelle Erinnerung und kollektives Geschichtsbewusstsein. Die Gedichte sprechen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und vereinen für einen Moment die Zeit, vergleichbar mit der Atmosphäre beim Besuch eines Museums.


Die Sprache der Gedichte ist geprägt von einer Vereinigung antiker Formen und moderner Traditionen: Grünbein schließt an das antike Versmaß an, indem er die klassische Form des Hexameters, des Pentameters und des Distichons sowie das Grundmuster der Elegie verwendet. Dem gegenüber stehen vielfältig eingesetzte Assonanzen sowie Durchbrechungen der vorgegebenen Form. Die Verse ähneln dadurch einer musikalischen Improvisation und erhalten trotz der antiken Grundform eine sprachliche Natürlichkeit. So hat der Text an vielen Stellen eher einen prosaischen als lyrischen Ton. Der Stil Grünbeins ist weiterhin geprägt von einem komplexen Satzbau, der dem Leser eine hohe Aufmerksamkeit abverlangt. Der Reiz der durch Komma abgetrennten Einschübe liegt jedoch in der hervorhebenden Beschreibung dessen, was der Dichter ins Zentrum der Betrachtung stellen möchte. Die, wenn überhaupt, meist unreinen Reime stellen die Bedeutung des Wortes in den Vordergrund. Der Dichter spielt mit Binnenreimen und Klangwiederholungen innerhalb der Verse. Am deutlichsten wird dies im Gedicht über Grünbeins Großmutter Die Wachtel: "Oder ein Wort weht herüber, eine brüchige Silbe, / Die einen schwach macht, weil sie so vieles enthält. / Überhaupt, die Erhaltungssätze der Sprache… / Dasselbe Ach in Fachwerk wie in Kasachstan." Englische, französische und fortlaufend immer mehr lateinische und griechische Einwürfe erwecken zusätzlich den Schein einer universellen sprachlichen Gültigkeit.

Im ersten Abschnitt der insgesamt dreiteiligen Gedichtsammlung finden sich Verse zur DDR-Vergangenheit und Kindheitserinnerungen des Autors. Es folgen mehrere Reisegedichte und Szenen, die sich in Metropolen wie Paris, Tokyo, Berlin oder New York abspielen. Die Großstädte verkörpern die Weltoffenheit und Freiheit, nach der sich Grünbein als ehemaliger DDR-Bürger so sehr sehnte und die ihm noch heute so viel bedeuten, weil sie ihm in seiner Kindheit versagt blieben. Sarkastisch ist deshalb der Ton im Gedicht Kleine Ode zum Dank, indem er mit dem Despotismus des DDR-Regimes abrechnet:
"Da irgendwo muß es gewesen sein, in einem Wald-
Versteck aus Sand und Heidekraut und Kiefern,
Daß man wie Rip von Winkle seine Gegenwart verschlief.
Dafür mein Dank. Von ganzem Herzen sag ich danke
Für eine Welt voll seltsam surrealer Härten,
Für eine Zukunft, die nie eintrat, eisern ausgesperrt."
Besonders Flughäfen und Bahnhöfe bedeuten für Grünbein Freiheit, die ihm in seiner Kindheit und Jugend verschlossen war. Die Betrachtung der Gegensätze Fernweh und Heimat wird vom Dichter in die Gedichte eingeschlossen:
"Weit weg, ein Zukunftstraum, ist nun der Ferne Osten,
Der Greenwich-Zeit, der retardierenden, voraus.
Der Birke gleich am Rollfeld, auf verlornem Posten,
Stehst du vorm Paßbeamten stumm - endlich zuhaus."

Als Bürger Dresdens und des ehemaligen Ostens setzt sich Grünbein in seinen Gedichten auch mit Zerstörung und Verfall auseinander - exemplarisch in der zweiten Strophe des Gedichts Strophen für übermorgen, das titelgebend für den gesamten Zyklus ist:
"Bis in die Fingerspitzen hab ich sie gefühlt,
Die eigne Zeit, die billige, das Interregnum
Der kleinen Leute. Jetzt ist sie vorbei.
Für alle reicht es nicht, verkündet kühl
Im Nachtprogramm die Elfe und verstummt.
Solange oben, ein Stück Kork, und plötzlich Blei,
sinkt man hinab, versteht die Welt nicht mehr.
Die Hauptstadt, lichtlos, ein Refugium
Versteinerter Mellusken… Kein Verkehr.
In den Bezirken geht die Leere um.
Und der Erzähler hat, der müde Philosoph,
Den Faden längst verloren und die Frage.
Der Urmensch kehrt zurück in seine Höhle.
Die Amsel, zwitschernd dort im Hinterhof,
Erinnert sehr an Kindheitsnachmittage,
Die lang sich dehnten, zähflüssig wie Öl."

Der von Grünbein in 12 Strophen beschriebenen Apokalypse folgt in der 13. Strophe das Aufleben in der Zeit danach:
"Und anderntags? Zeigt der Kalender: Mai.
Man stellt die Armbanduhr auf Sommerzeit,
Telephoniert, als ob da nichts gewesen sei.
Die Zeitung titelt was von Fakten, aufgebauscht,
Und schimpft Experten als Tragödienchor.
Der Asphalt pulst, vibriert. Verlockend rauscht
Die Großstadtmuschel wie gewohnt am Ohr.
[...] Da ist es wieder, dieses süße, geile
Gefühl von Schwindel. Zur Museumsmeile
Abstrakter Kunst verzaubert, glänzt die Welt -
Der Globus wie ein Apfel, frisch geschält."
Deutlich wird das Bedürfnis des Menschen zum Weitermachen. Nach der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der DDR formuliert Grünbein mit Blick in die Zukunft:
"Gelassenheit
Heißt die Devise jetzt, wo weder Hoffnung
Noch Furcht in Gang hält den Verkehr."

Im Zentrum des zweiten Teils steht Berlin. Für Grünbein ist die deutsche Hauptstadt das Tor zur Welt, sein Ausweg aus dem sozialistischen Regime. Der Titel des Gedichts Transit Berlin verdeutlicht die Rolle, die die Stadt für das lyrische Ich innehat. Mit Berlin rückt zugleich auch die Gegenwart in den Fokus der Texte. Zur Beschreibung der Gesellschaft verwendet Grünbein dabei mehrmals das Bild des Zirkus: "Die Stadt - eine Hagenbeckschau"; "Was fehlt noch, jetzt da du den Zirkus auswendig kennst?"; "Soweit das Falsche, hier auf Erden wiederkehrend / Als Allgemeines: Dieser Zirkus Sinnlichkeit." Museen sind für Grünbein ein zentrales Organ der Erinnerung - besonders anschaulich im Gedicht Museumsinsel. Im Text erscheint das Museum als die Vereinigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft indem es, ähnlich wie Grünbeins Gedichte, Schauplätze und Augenblicke für die Nachwelt zusammenfasst. So heißt es beispielsweise "Historischer Boden: man klebt an ihm fest" oder "Dies ist der Ort, wo die Jahre sich gleichen, magere, fette."

Der letzte Teil des Gedichtzyklus ist geprägt von Grünbeins Begeisterung für die antike Mythologie in Verbindung mit Natureindrücken. Seen, Berge, Flora und Fauna spielen in der Motivik Grünbeins eine zentrale Rolle. Hiervon zeugen die Gedichte mit den Titeln Überquerung der Alpen, Villen am Comer See oder In den Schweizer Bergen. So vereint Grünbein in seinen Gedichten unterschiedlichste Kategorien der Geschichte und des menschlichen Lebens. Italien, Griechenland und die Schweiz bieten dem Dichter Inspiration und Schauplätze. Große Dichter, Künstler und Philosophen, aber auch Politiker und andere historische Persönlichkeiten werden in die Verse eingeflochten und an vielen Stellen mit Figuren der antiken Mythologie zu einem allumfassenden Bild verknüpft: In sarkastischem Ton ist sogar Adolf Hitler ein Gedicht mit dem Titel das große Weichei gewidmet. Mehrmals wählt der Dichter eine neue Perspektive; erzählt vom Hund, statt vom Menschen: "Ziellos streunt man, Hund, durchs Stadtrevier." Wie der Hund, so ist auch der Mensch unterwegs, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben. Die Reise des Dichters mündet in eine immer stärker werdende Innenansicht des Menschen. Die imaginäre Welt der Träume und Fantasien, aber auch die Gefühle und Ängste des menschlichen Lebens greift Grünbein gegen Ende seines Zyklus auf: Hieran verdeutlicht sich das Bedürfnis des Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Gedichte über Krieg und Vergänglichkeit zeigen aber immer wieder, wie sehr das Individuum in der brutalen Welt gefangen ist. So auch im Gedicht Kopie in Zement:
"Soll die Logik des Friedens dem Chaos des Krieges gehorchen?
Das ist die Achse, um die alles sich dreht, Eleven der Diplomatie.
Verträge sind sterblich, ihr wißt es, sind bloßes Papier."
Das Bild der Jahreszeiten hat eine besondere Bedeutung. Die bewusstwerdende zeitliche Begrenztheit des eigenen Lebens begründet den Wunsch, ein Teil der Geschichte und Erinnerung zu sein. Immer stärker tauchen in den Gedichten Figuren und Gestalten aus der antiken Mythologie und Philosophie auf. Auch die Liebe als menschliches Grundbedürfnis greift der Dichter in diesem Teil des Zyklus auf. Grünbein entfaltet besonders die körperliche Liebe vom ersten Verliebtsein bis hin zum Beziehungsalltag. Nymphen und weitere erotisch angelegte mythologische Wesen tauchen bildhaft in den Versen auf.

Das letzte Gedicht dieses Zyklus ist der Bedeutung der Sprache gewidmet. Besonders die geschriebene Sprache ist Medium zur Beständigkeit. Wie schon der Titel des Gedichtbandes Strophen für übermorgen zeigt, besitzt Sprache die Möglichkeit zur Konservierung der Zeit. Die Grenzen der Sprache werden jedoch an diesem Punkt deutlich. Im Gedicht Lärchen und Sägen sorgt sich das lyrische Ich um den Niedergang der Sprache und damit um den Verlust der Beständigkeit:
"Hört ihr noch zu, ihr Brüder Grimm?
Ach, diese Sprache, unverwüstlich,
Geschändet oft, spricht auch für euch,
In welcher Mauerritze, welcher Stimme
Wohnt euer Märchengeist, der gute, böse, heute?
Was hier geschieht, was ihr geschieht,
Ist unaufhaltsam. Denn die Worte fallen
Aus losen Mündern, Zeitungsspalten,
Und keines schert sich um die alten Stämme.
Wie sie gesammelt sind in euren Eichenwäldern
[...]
Es ist gekommen, wie es kommen mußte.
Die Maus fraß Gift, die Katze fraß die Maus,
Dann fiel das Haus in Trümmer. Keiner weint,
Jung auf den Dorn gespießt der Präzision.
So ging es zu in dieser Welt. So geht es zu."
Grünbein gilt als einer der intellektuellsten Dichter unserer Zeit. Dennoch erschließen sich seine Texte auch gewinnbringend für einen Leser, der überhaupt nicht mit seinem Werk vertraut ist. Es bietet sich eine Vielzahl faszinierender Bilder und origineller Sichtweisen auf Fragen des Daseins.

Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 205 S. 19,80 €.

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